Ein Abend im Stuttgarter Hotel Silber

Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg hat zum Social-Media-Abend ins Hotel Silber geladen. Wo sich das befindet? In Stuttgart Mitte, Dorotheenstraße 10, gleich neben dem neu erbauten Dorotheen-Quartier. Klingt nach einem interessanten Abend in einem erstklassigen Hotel, oder? Interessant war der Abend, er war es sogar sehr. Das mit dem erstklassigen Hotel dagegen war so eine Sache, doch das wussten wir Teilnehmer natürlich. Wer nämlich ein Hotel mit weichen Teppichen, edel eingerichteten Ein- und Zweibettzimmern und Wellness-Bereich erwartet, wird sich im Hotel Silber wundern. Warum?

Der Lernort

Tatsächlich hat Heinrich Silber 1873 den Gasthof „Zum Bayerischen Hof“ gekauft, um ein Hotel für gehobene Ansprüche einzurichten. Das Parkhotel Silber stieg zu einem der ersten Häuser Stuttgarts auf. In den Räumlichkeiten verkehrte die bessere Gesellschaft. 1903 wurde hier die Deutsche Motorradfahrer-Vereinigung gegründet, jene Vereinigung, aus der 1911 der ADAC hervorging.

Parkhotel Silber - ein Hotel für gehobene Ansprüche

Parkhotel Silber – ein Hotel für gehobene Ansprüche

1913 wurde das Hotel zu einem prächtigen Bau im Stil der Neorenaissance erweitert und umgestaltet. Der Erste Weltkrieg forderte jedoch seinen Tribut. Das noble Hotel Silber schloss, der Eigentümer verkaufte das Gebäude 1919 dem Land Baden-Württemberg. Zunächst zog die Oberpostdirektion ein, ab 1928 das Polizeipräsidium Stuttgart und die Politische Polizei Württemberg-Hohenzollern. Damit begann die Geschichte, an die im heutigen Hotel Silber erinnert wird. Seit Dezember 2018 ist das ehemalige Hotel- und Behördengebäude nämlich Museum. Oder genauer: ein Lern- und Begegnungsort, der ein Fenster in die Vergangenheit der Institution Polizei öffnen soll.

Erfolgreiche Bürgerinitiative

Im Mittelpunkt der Ständigen Ausstellung steht die Zeit des Nationalsozialismus und die Institutionalisierung des Nazi-Terrors. Hier im Hotel Silber befand sich nämlich das Hauptquartier der Gestapo Württemberg-Hohenzollern. Da aber Geschichte nie in streng eingeteilten Datumsgrenzen verläuft, werden auch die Entwicklungen davor und danach aufgezeigt. So entstand eine beeindruckende und zugleich bedrückende Dokumentation von Kontinuitäten und Brüchen. Eine Dokumentation, die von einer Aktualität ist, wie wir sie uns vor wenigen Jahren noch nicht hätten vorstellen können.

Hotel Silber, Haupteingang

Hotel Silber, Haupteingang

Als ab 2007 das Dorotheenquartier geplant wurde, sollte der im Krieg verschont gebliebene Ostflügel des Hotels abgerissen und dem Einkaufszentrum zugschlagen werden. Der Architekt Roland Ostertag protestierte als Erster gegen den Abriss und rief die Bürgerinitiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber ins Leben. Ein zäher Kampf begann, der immer wieder zu scheitern drohte. Im April 2011 schließlich beschloss das Land den Erhalt des Gebäudes und die Einrichtung der geforderten Erinnerungsstätte. Wenig später bezog man die Stadt Stuttgart in die Trägerschaft mit ein. Auch die Bürgerinitiative, die sich zum Verein gewandelt hat, besaß und besitzt bis heute Mitspracherecht. Alles, was zu sehen und zu hören ist, wurde mit ihr bzw. dem Verein abgestimmt. Das Hotel Silber entwickelte sich damit zu dem, was es lange Zeit nicht war. Es entwickelte sich zu einem Ort der Demokratie und des bürgerlichen Mitspracherechts.

Fenster in die Vergangenheit

Heute sind manche Fenster der Nordostfront mit zurückhaltend gestalteten Betontafeln versehen. Auf ihnen sind Schlagworte wie „Denunziation“, „Mut“ oder „Vorurteil“ zu lesen. Als ich daran vorbeiging, fragte ich mich, wie heftig die Vorurteile gewesen sein müssen, damit die kleine Splitterpartei NSDAP in wenigen Jahren zur regierenden Partei werden konnte. Und wie viele Menschen sind während des Nationalsozialismus wohl an der Fassade des Hotels Silber vorbeigegangen, ohne zu ahnen, was sich hinter den Mauern abspielte? Wie viele ahnten es? Wie viele wussten es?

Hotel Silber, Seiteneingang in der Dorotheenstraße

Hotel Silber, Seiteneingang in der Dorotheenstraße

Später am Abend sollten wir erfahren, dass den meisten bekannt gewesen sein muss, was hier vorging. Allein schon deshalb, weil die Schreie der Gefolterten mit Sicherheit aus dem Verhörzellen nach draußen gedrungen sind.

Heute betritt man das Gebäude an der Ecke Dorotheenstraße/Holzstraße und steht im ehemaligen Hotelrestaurant bzw. der späteren Kantine.

Zeitfenster im ehemaligen Speisesaal, heute Foyer

Zeitfenster im ehemaligen Speisesaal, heute Foyer

Zwei Säulen in der Mitte und an den Wänden eingelassene Zeitfenster erinnern an die frühere Funktion des Raums. In einer Ecke ist ein Kreis in den Boden eingelassen. Er symbolisiert eine Wendeltreppe, die von hier nach unten in den Keller führte. Anfangs war sie für das Personal des Restaurants gedacht. Die in den Kreis integrierte Inschrift erinnert aber nicht daran, sondern zitiert die Widerstandskämpferin Lina Haag.

Ort der ehemaligen Wendeltreppe in den Keller

Ort der ehemaligen Wendeltreppe in den Keller

Lina Haag wurde gleich am 31. Januar 1933 festgenommen und anschließend im Hotel Silber verhört. In der Folge hielt man sie jahrelang in verschiedenen Konzentrationslagern fest. Ihre Erinnerungen an diese Zeit veröffentlichte sie in dem 1947 erschienenen Buch „Eine Handvoll Staub“. Eigentlich ist der Text dieses Buches ein langer Brief an ihren erst inhaftierten, dann an die Ostfront geschickten Mann. Im Keller der Gedenkstätte findet sich ein weiters Zitat daraus. Ein kleines Fenster in der Garderobe gibt den Blick auf den alten Keller frei. Zu sehen ist eine unebene, dunkle Wand, darauf erscheint mittels Lichtinstallation das Zitat.

Zeitfenster zur alten Kellerwand

Zeitfenster zur alten Kellerwand


Zeitfenster zur alten Kellerwand mit Lina Haags Beschreibung

Zeitfenster zur alten Kellerwand mit Lina Haags Beschreibung

Unten im Keller und oben in den Büros

Hier unten lagen die Verwahrzellen. Wir stellen uns solche Räume dunkel, modrig und kalt vor. Tatsächlich kann ich das mit einem Blick durch das kleine Fenster an der Seitenwand gut nachvollziehen. Ansonsten aber ist der Raum hell, modern, freundlich – eine Museumsgarderobe mit Schließfächern, Sitzgelegenheiten und einem Durchgang zu den WCs. Dieses Nebeneinander ist nicht unumstritten. Das heutige Hotel Silber ist ein historisches Gebäude mit alter Bausubstanz und ist es auch nicht, denn viel wurde verändert. Zuerst wurde es nach 1945 den Behörden-Bedürfnissen angepasst, dann zu einem modernen Ausstellungsgebäude umgestaltet. Hier im Keller wird dieses Aufeinandertreffen von Geschichte und Gegenwart besonders deutlich.

Entsprechend der Konzeption des Museums sollen allerdings nicht die Opfer in den Kellern im Mittelpunkt stehen, sondern die Täter in ihren darüberliegenden Büros. Die grauenhaften Geschehnisse wurden ja in den oberen Stockwerken in Gang gesetzt. Dort nämlich, wo die zahlreichen Mitarbeiter der Politischen Polizei bzw. der Gestapo saßen.

Viele Teile ergeben ein Ganzes

Viele Teile ergeben ein Ganzes

Im ersten Stock angekommen, „stolpert“ der Besucher sofort über eine Installation. Viele kleine Passbilder setzen sich darin zu einem großen Ganzen zusammen. Es sind nicht etwa die Passbilder der Opfer, sondern die Passbilder der ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gestapo-Zentrale. Zusammen ergeben sie „den“ Gestapo-Mann, der symbolisch für alle steht. Später erfahren wir, wie alltäglich dieser Mann aussah. Der lange Ledermantel, in dem wir ihn uns gern denken, ist eine Hollywood-Zutat. In der Realität waren die Gestapo-Leute ganz normal gekleidet. Zwei Fotos vom Ermittlungsteam, das nach möglichen Komplizen des Hitler-Attentäters Georg Elser suchte, beweisen es.

Ermittlungstrupp im Fall Elsner

Ermittlungstrupp im Fall Elsner

An ihnen wird die Banalität und Alltäglichkeit des braunen Terrors deutlich. Da steht die Ermittlertruppe fröhlich im Schwarzwald zusammen. Mitten im Schnee, Menschen wie wir. Nach der Fotosession haben sie sich vielleicht ausgelassen mit Schneebällen beworfen.

Die Hüter der Demokratie

Der erste Raum widmet sich der Politischen Polizei der Weimarer Republik. Die schlaglichtartig an die Wand geworfenen Zitate verdeutlichen, warum der Übergang in den Nationalsozialismus so gut funktionierte. Der Staat war auf dem rechten Auge blind, viele Mitglieder der Politischen Polizei und nicht nur dieser vertraten völkisches Gedankengut. Eigentlich hätte die im Hotel Silber untergebrachte Politische Polizei für Württemberg-Hohenzollern die junge Demokratie schützen sollen, doch sie machte genau das Gegenteil.

Die Polizei als Hüter der Weimarer Republik

Die Polizei als Hüter der Weimarer Republik

Nach der Machtergreifung wechselte der Name der Behörde. Der Apparat blieb jedoch zu einem hohen Prozentsatz derselbe, er wurde allerdings um zwei Drittel vergrößert. Gestapo und auch Kriminalpolizei waren dabei nicht wirklich voneinander zu trennen.

Befehl ist nicht Befehl

Die Legende vom widerwilligen Gehorsam

Die Legende vom widerwilligen Gehorsam

Vom Hotel Silber aus verfolgte die Gestapo von nun an Regimegegner und -gegnerinnen, jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen, Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen, Minderheiten wie Homosexuelle, Sinti und Roma. Sie folterte, deportierte und tötete sie. Später wollte es keiner gewesen sein, Befehl sei schließlich Befehl. Dass dieses nach 1945 ständig wiederholte Argument so nicht stimmt, wird in einem weiteren Raum deutlich. Aufgeschlagen liegt dort das Album, das Irene Hagenlocher als Erinnerung für ihre kleine Tochter anlegte. Es ist Fotoalbum und Tagebuch in einem. Zu sehen ist eine Seite aus dem Jahr 1943.

Das Hagenlochersche Erinnerungsalbum

Das Hagenlochersche Erinnerungsalbum

Ihr Mann, der SS- und Gestapomitglied Alfred Hagenlocher, hat gerade den Befehl erhalten, mit dem Sonderkommando 8 nach Russland zu gehen. „Vati“ habe lange darauf gewartet, ihm sei damit ein „großer Wunsch in Erfüllung gegangen“, hält Irene für ihre Tochter Ingrid fest. Das Sonderkommando 8 ermordete mehr als 20.000 Menschen, darunter Frauen und Kinder. Welche Rolle Hagenlocher dabei spielte, ist nicht bekannt.

Alfred Hagenlocher begegnet in der Ausstellung noch einmal. Die US-amerikanischen Militärregierung zitierte den ehemaligen SS-Obersturmführer und Gestapo-Kommissar vor die Spruchkammer. Die Versuche seines Umfelds, ihn aufgrund seiner Jugend und seines Idealismus als irregeleiteten Mitläufer darzustellen, schlugen fehlt. Die Spruchkammer stufte Hagenlocher, der schon 1931 der NSDAP beigetreten war, als Hauptschuldigen ein.

Spruchkammer vs Alfred Hagenlocher

Spruchkammer vs Alfred Hagenlocher

Allerdings ging er in Berufung. Inzwischen waren die 1950er-Jahre angebrochen. Die deutschen Behörden waren wieder zuständig, das Interesse an der Entnazifizierung hatte stark nachgelassen. Nun kann sich das oben gezeichnete Unschuldsbild von Hagenlocher durchsetzen. Der erste Spruch wird aufgehoben, er wird rehabilitiert. Alfred Hagenlocher folgte von jetzt an seinen künstlerischen Neigungen, wurde Maler, Grafiker und Kunstkurator. Für seine Verdienste auf diesem Sektor erhielt er 1994 von Ministerpräsident Erwin Teufel die Staufermedaille verliehen.

Tür an Tür

Hagenlocher steht exemplarisch für viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Gestapo-Zentrale. Letztlich wurden nur drei Prozent als Nationalsozialisten eingestuft. Auf diese Weise kam es später zu einer absurden Situation im Hotel Silber. Nach dem Wiederaufbau des teilweise zerbombten Gebäudes zog die Kriminalpolizei ein und blieb bis 1984. Danach übernahm es das Innenministerium.

Nach Kriegsende stellte die Stuttgarter Kriminalpolizei einige ehemalige Gestapo-Opfer an, die beim Aufbau einer demokratischen Polizei helfen wollten. Nach 1950 bewarben sich auch ehemalige Gestapo-Beamte. Zwar war das unter den US-Behörden noch ein absolutes Tabu gewesen, doch mit deren Rückzug hatte sich die Haltung dazu geändert. Nun wurden Stimmen laut, die deren Einstellung forderten. Schließlich brauche man ja Erfahrene mit dem nötigen Spezialwissen. Diese Stimmen wurden gehört. Verfolgte, die hinter der Zellentür Folter erlebt hatten, und Verfolger, die dafür mitverantwortlich gewesen waren, arbeiteten ab jetzt Bürotür an Bürotür. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es Ersteren damit ging.

Zellentüre von außem

Zellentüre von außem


Zellentür von innen

Zellentür von innen

Nicht nur in personeller Hinsicht gab es eine gewisse Kontinuität, auch in strafrechtliche Hinsicht war manches übernommen worden. So war unter den Nationalsozialisten 1935 das seit 1871 bestehende Verbot homosexueller Beziehungen unter Männern verschärft worden. Die junge Bundesrepublik, in der Sexualität sowieso ein Tabuthema war, behielt diese Verschärfung noch lange bei. Die im Hotel Silber ansässige „Sittenpolizeit“ musste sich also diesbezüglich lange nicht umstellen – sieht man einmal davon ab, dass in den 1950er-Jahren sehr viel mehr Fälle zur Anzeige gebracht wurden.

Manches hatte Kontinuität

Manches hatte Kontinuität

Der Mut der Erben

Geschichten gibt es im Hotel Silber viele zu erzählen. Da wäre zum Beispiel noch die Geschichte der ehemaligen Gestapo-Sekretärin Lieselotte Führer. Sie war über das, was sie im Hotel Silber mitbekam, entsetzt, floh in die Schweiz und gab dort all ihr Wissen preis. Oder die des SS-Angehörigen Günther Mannerz, der nach dem Krieg als V-Mann für die US-Militärs arbeitete. Dank seinen Informationen konnte die nationalsozialistische Untergrundorganisation ELSA auffliegen. Da wäre die Biografie von Friedrich Mußgay. Er kam im April 1933 zur Politischen Polizei in Stuttgart und stieg bis zum Leiter der Gestapo-Zentrale auf. Als er von den Alliierten verhaftet wurde und sich für seine vielfältigen Verbrechen verantworten sollte, entzog er sich dem im September 1945 durch Selbstmord.

Die Geschichte der Lieselotte Führer

Die Geschichte der Lieselotte Führer

Das Material wurde den Ausstellungsmachern oft von den Angehörigen der Täter und Täterinnen – rund ein Drittel waren Frauen – zur Verfügung gestellt. Sie setzten und setzen sich bewundernswert mit der eigenen Familiengeschichte auseinander. Das Wort „Mut“, das in einem der Fenster zur Dorotheenstraße zu lesen ist, gilt nicht nur den Widerstandskämpfern der damaligen Zeit, sondern auch ihnen.

Herzlichen Dank an Friedeman Rinke, Dr. Peter Schaller und Joachim Rüeck für die spannenden Einblicke und das interessante Gespräch. Sie haben sich für uns viel Zeit genommen und uns diesen so wichtigen Erinnerungsort für das dunkle Kapitel „Nationalsozialismus“ sehr nahe gebracht.

Informationen zum Hotel Silber finden sich auf folgenden Seiten:

Museum Hotel Silber

Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e.V.

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Andrea Hahn, Foto: Chris Korner

Mein Name ist Andrea Hahn, und ich liebe es, Geschichten zu erzählen – Geschichten von Menschen, die mir begegnen, und Geschichten von Menschen, die unsere Welt längst verlassen haben. Außerdem besuche ich gerne Orte, die Geschichten zu erzählen haben, und liebe (fast) alles, was blüht, auf vier Beinen läuft, durch das Wasser schwimmt und die Luft fliegt. Auch davon schreibe ich.

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