Kreideweiße Straßen, Spieltische und Bergwiesen
Russische Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Baden-Württemberg
Russische Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Baden-Württemberg – gab oder gibt es solche? Eine Spurensuche.
Fahndet man nach ihren Spuren, könnte man versucht sein, sich zuerst nach Stuttgart zu wenden. Dort residierten im 19. Jahrhundert die russischen Großfürstinnen Katharina, Olga (beide Königinnen des Landes im Südwesten) und Wera. Tatsächlich kommt einem sofort der Name Iwan Turgenjew unter.
Der Dichter, der zu den Großen der russischen Literatur zählt, besuchte 1865 die württembergische Residenzstadt. Er traf mit seinem Übersetzer Moritz Hartmann und Eduard Mörike zusammen. Gemeinsam lauschten sie den Mörike-Vertonungen der gefeierten Sängerin Pauline Viardot-García. Turgenjew hatte die Spanierin 1843 bei einem Gastspiel in St. Petersburg kennen und lieben gelernt. Sie war verheiratet, und er lebte mit ihr und ihrem Mann, einem französischen Theaterdirektor und Kunstkritiker, in einer Ménage-à-trois.
Stippvisiten in Stuttgart
Letztlich waren es aber nicht die Großfürstinnen und nicht die Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, die in erster Linie für Stippvisiten russischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Stuttgart sorgten. Vielmehr waren es revolutionär gesinnte linksgerichtete Kreise des beginnenden 20. Jahrhunderts. Ab 1903 wohnte Clara Zetkin mit ihren beiden Söhnen, die aus der früheren Beziehung mit dem jung verstorbenen Russen Ossip Zetkin stammten, und ihrem Mann Friedrich Zundel in Sillenbuch. Ihr Haus wurde zu einem beliebten Treffpunkt einheimischer und auswärtiger Linksintellektueller. Dies war insbesondere während des in Stuttgart stattfindenden Weltkongresses der Sozialistischen Internationale 1907 der Fall. Die »Datscha Zetkin« besuchten Bebel, Liebknecht und Lenin. Rosa Luxemburg war ein gern gesehener Gast, und auch die russische Revolutionärin und Schriftstellerin Alexandra Kollontai verkehrte hier.
Der sowjetische Schriftsteller Sergej Tretjakow, der enge Beziehungen zu deutschen Kollegen unterhielt, besuchte 1929 oder 1930 den Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf. Dieser war Mitglied der KPD und Verfasser des heftig diskutierten Dramas »Cyankali«. Er wohnte in einem neu erbauten Flachdachhaus, das die Stuttgarter das »Kommunistenhaus« nannten und von dessen großzügigen Fenstern aus der russische Gast das typische Halbhöhenpanorama genießen konnte: »Stuttgart liegt in zwei Berghufeisen. Blickt man vom Fenster des Hauswürfels nach unten, dann sieht man Treppen, die zwischen dicht gesäumten kleinen Gärten hindurchführen.« Der »Hauswürfel« befand sich in der Zeppelinstraße, einer Straße, die für Tretjakow einen Namen »aus Aluminium, Helligkeit und Luft« besaß und ihn an die »kreideweißen Straßen von Jalta und Sewastopol« erinnerte.
Doch selbst wenn Stuttgart Erinnerungen an die russische Heimat zu wecken vermochte und russische Linke hier Gleichgesinnte fanden, kam es am Nesenbach nie zu einer Koloniebildung. Diese verbindet man vielmehr mit dem Flüsschen Oos und dem Namen Baden-Baden.
Paradiesisches Eckchen
Nikolaj Gogol, der 1836 zum ersten Mal in Baden-Baden war, nannte es ein »paradiesisches Eckchen«. Ähnlich mag es Wassili Schukowski empfunden haben, denn der Dichter und Übersetzer, der dank seiner einflussreichen Stellung am Zarenhof verbannten Schriftstellern wie Alexander Puschkin und Michail Lermontow helfen konnte, verbrachte seine letzten Lebensjahre an der Oos und starb 1852 hier. Vielleicht hat auch Pauline Viardot-García Paradiesisches mit Baden-Baden verbunden.
Sie zog 1863 mit Mann und Kindern für mehrere Jahre in den Kurort. Ihre Villa in der heutigen Fremersbergstraße, zu der ein Theater sowie eine Vortragshalle gehörten, entwickelte sich schnell zu einem Treffpunkt für gekrönte Häupter und gefeierte Künstler. Auch Freund Turgenjew war nicht weit, denn er erwarb, nachdem er einige Zeit in der Schillerstraße 17 gewohnt hatte, das Nachbargrundstück. Gegenüber Fjodor Dostojewski bekannte er, »dass ich mich hier in Baden-Baden endgültig niedergelassen habe, mich nicht mehr als Russen betrachte, sondern als Deutschen, und dass ich darauf stolz bin«.
Erst ein Literatur-, dann ein Theaterstreit
Es war nicht die erste Berührung Turgenjews mit Deutschland. Schon in seinen Studienjahren war er wohl mit russischen Chemikern in Heidelberg in Kontakt gekommen. Man nimmt an, dass seine Kenntnisse in Chemie, die sich in seinem berühmtesten Roman »Väter und Söhne« verraten, aus diesen Begegnungen stammen. Später konsultierte er den bedeutenden russischen Chirurgen und Gelehrten Nikolai Pirogow, der in den 1860er-Jahren in Heidelberg tätig war. In seinem Haus in der Märzgasse 4 unterhielt er eine Lesehalle mit russischsprachigen Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, die zum kulturellen Mittelpunkt der russischen Kolonie in Heidelberg wurde. Hier las Turgenjew aus »Väter und Söhne« und entfesselte prompt einen Literaturstreit, da die Figur des Basarow vielen zu nihilistisch angelegt war. Unter den Kritikern befand sich die Mathematikstudentin und spätere Professorin Sofia Vasilevna Kovalevskaja. Sie verfasste einen Gegenroman mit dem Titel »Die Nihilistin« und belebte damit die Diskussion innerhalb der russischen Kolonie in Heidelberg außerordentlich.
War es in Heidelberg ein Literaturstreit, entbrannte in Karlsruhe ein Theaterstreit um den berühmten russischen Dichter. Während seines Aufenthalts in Baden-Baden besuchte Turgenjew hin und wieder auch die Residenzstadt der badischen Großherzöge. Dort gab die Viardot einige Gastspiele am Hoftheater. Anfang 1870 kam es bei der Aufführung eines von ihr nach einem Libretto von Turgenjew komponierten Singspiels zum Eklat. Die Rezensenten kritisierten vor allem gegen das Textbuch und fanden damit weit über die Grenzen Karlsruhes hinaus Resonanz.
Der Dichter reagierte äußerst ungehalten, und in der Novelle »Frühlingsfluten« fand die »Karlsruher Geschichte« 1871 ihren literarischen Nachhall. Turgenjew übte darin satirisch übersteigerte Kritik am deutschen Theater, insbesondere am Karlsruher Hoftheater und seinem Intendanten Eduard Devrient, sowie an den Rezensenten und auch an der »Eroberungsgier« Preußens. Der Text erregte in Deutschland einen Aufschrei, doch der Dichter hörte diesen nur noch aus der Ferne. Mit Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 war er nämlich im Gefolge von Pauline Viardot-García und ihres Mannes nach London und schließlich Paris weitergezogen. Sieben Jahre hatte er in der Stadt an der Oos gelebt. Heute wird der große russische Dichter hier vielfältig geehrt, so ist Baden-Baden unter anderem Sitz der Turgenev Gesellschaft Deutschland / Förderkreis russisches Haus e.V.
Russen in Roulettenburg
Iwan Turgenjew hat seinerseits der Stadt und ihrer Gesellschaft in seinem Roman »Rauch« ein Denkmal gesetzt. Darin ist unter anderem vom Casino die Rede: »In den Spielsälen, um die grünen Tische drängten sich dieselben allbekannten Gesichter mit demselben abgestumpften und habgierigen, erstaunten oder erbosten […] im Grunde genommen aber raubtierartigen – Ausdruck, den das Spielfieber jedem, selbst den vornehmsten Gesichtszügen verleiht.« Der Autor musste es wissen, denn die Auswirkungen der Spielsucht konnte er unter anderem an seinen russischen Kollegen beobachten. So musste der begüterte Turgenjew 1868 Leo Tolstoi vor der Pleite retten. Dieser hatte in seinem Tagebuch notiert: »Roulette bis sechs Uhr abends. Alles verloren«.
Sehr viel schlimmer als Tolstoj trieb es Fjodor Dostojewskij. Er war über lange Jahre dieser Sucht verfallen und quer durch Europa auf der Flucht vor seinen Gläubigern. Seine Erfahrungen flossen in den Roman »Der Spieler« ein, wobei sich Bad Homburg und Wiesbaden darum streiten, das eigentliche Vorbild für die Stadt »Roulettenburg« zu sein. Verbrieft ist, dass Dostojewski 1867 hohe Summen in Baden-Baden verlor und sich restlos mit dem so gegensätzlichen Turgenjew überwarf.
Der russische Arzt Leonid Zypkin beschäftigte sich zwischen 1977 und 1980 eingehend mit Dostojewskijs Schicksal. Herauskam dabei der postum veröffentlichte und hoch gelobte Roman »Ein Sommer in Baden-Baden«.
Ambivalente Schwarzwaldbeziehung
Einen Sommer ganz anderer Art verbrachte Anton Tschechow mit seiner Frau Olga Knipper 1904 in Badenweiler. Er suchte dort Linderung für seine weit fortgeschrittene Tuberkulose. Anfreunden konnte sich der Schriftsteller und Arzt mit seinem Aufenthaltsort nicht. Er nannte Badenweiler einen »sehr originellen Kurort«, ohne aber zu wissen, »worin seine Originalität besteht«. Die Musik im Kurpark schien ihm »reich, aber sehr unbegabt«. Nur die Badenweiler Sonne konnte bestehen, denn diese »brennt nicht, sie liebkost!«. Er sollte sie nicht lange genießen, Tschechow war Anfang Juni gekommen und verstarb am 15. Juli in der Markgräflergemeinde.
Zur selben Zeit traf etwa 30 Kilometer nördlicher Marina Zwetajewa im Schwarzwald ein und blieb bis Mitte September. In diesem Fall war es die Mutter, die unheilbar an Tuberkulose erkrankt war und in Langackern, einem kleinen Ort südlich von Freiburg, gemeinsam mit ihrer Familie kurte. Halb Deutsche, halb Polin brachte sie den Töchtern Marina, damals 12 Jahre, und Anastasija, 10 Jahre alt, die deutsche Kunst und Kultur, insbesondere die Romantiker, nahe. Während sie auf einer Schwarzwald-Wiese lagen, las sie ihnen aus Wilhelm Hauffs Roman »Lichtenstein« vor.
Kein Wunder, dass Deutschland, das sie später noch öfter besuchten, für die Mädchen zum »Land der allerbesten Märchen« wurde. Als Marina Zwetajewa, die zu den bedeutendsten sowjetischen Autor*innen zählt, 1939 gefragt wurde, ob sie sich darauf freue, aus dem Pariser Exil in die Sowjetunion zurückzukehren, antwortete sie: »Wenn ich nur nach Deutschland zurück könnte, in die Kindheit.« Und 1919 schrieb sie in ihr Tagebuch: »Wie habe ich, mit welcher Sehnsucht, wie verrückt, den Schwarzwald geliebt.«