Nikolaus Lenau

Patient der Nervenheilanstalt Winnenden

Nikolaus Lenau war der wohl berühmteste Patient in der psychiatrischen Heilanstalt Schloss Winnental. Winnenden, der Ort, in dem sie liegt, erlangte am 11. März 2009 traurige Berühmtheit. Bei einem Amoklauf ermordete ein 17-Jähriger in seiner ehemaligen Schule und auf der Flucht 15 Menschen und sich selbst. Der Name „Winnenden“ wird seitdem mit diesem dunklen Erbe in Verbindung gebracht. Bis dahin hat man mit der Stadt im Remstal vor allem die berühmte und sehr erfolgreiche Heilanstalt asoziiert und mit ihr vor allem Nikolaus Lenau. Im Zuge der baden-württembergischen Heimattage 2019 in Winnenden arbeitete ich für die Literatur-Spaziergänge Hahn, Kusiek & Laing eine Tour zu den literarischen Spuren in Winnenden aus. Natürlich durfte Lenau dabei nicht fehlen.

Ein bisschen Geschichte zu Schloss Winnental

Berthold von Neuffen stiftete 1288 seinen Winnender Anteil dem Deutschen Orden. 1300 zog dieser aus der Stadt hinaus, um die hier verlaufende Route des Jakobswegs zu betreuen. Die Ordensbrüder erbauten eine Komturei, aus der im 15. Jahrhundert Schloss Winnental entstand. 1665 wurde dieses der Sitz der Seitenlinie Württemberg-Winnental. Aus dieser Linie stammte Karl Alexander, der den Württemberger Thron bestieg, als sein Cousin Herzog Eberhard Ludwig 1733 kinderlos verstarb. Das Haus Württemberg-Winnental hielt nun Einzug in die Residenzschlösser von Stuttgart und Ludwigsburg, Winnental selbst verlor an Bedeutung. 1796 wurde es Witwensitz von Sophie Albertine von Beichlingen, der Gemahlin des Herzogs Ludwig Eugen. Das Schloss wurde daher neu ausgestattet und Anfang des 19. Jahrhunderts der Schlossgarten angelegt. Nach ihrem Tod 1807 stand die Anlage leer, bis man sie 1813 zur Kaserne umfunktionierte. Am 1. März 1834 schließlich wurde in den weitläufigen Räumlichkeiten die Heilanstalt Winnental eröffnet.

Schloss Winnental, Rückseite

Schloss Winnental, Rückseite

Seit 1749 gab es ein Tollhaus in Ludwigsburg, in dem „Störer und Rasende“ weggesperrt wurden. Um 1800 begann allerdings ein Umdenken, man suchte nach Möglichkeiten für einen humaneren Umgang mit psychisch Kranken. Schließlich wurde die Heilanstalt in Winnenden ins Leben gerufen, die 90 Kranken Platz bieten sollte.

Zum ersten Leiter der bis heute existierenden Einrichtung wurde ab dem 8. Mai 1833 Dr. Albert Zeller berufen.

Gedenkstein für Dr. Albert Zeller, den ersten Leiter der Heilanstalt Winnental und Nikolaus Lenaus Arzt

Gedenkstein für Dr. Albert Zeller, den ersten Leiter der Heilanstalt Winnental und Nikolaus Lenaus Arzt

Er war damals erst 28 Jahre alt und hatte nach seiner Promotion selbst eine schwere Depression durchlitten. Auf einer Studienreise durch Frankreich und England hatte er positive und negative Beispiele für Heilanstalten kennengelernt und wusste genau, wie er Winnental führen wollte. Die Patienten sollten nicht weggesperrt, sondern in das alltägliche Leben der Anstalt einbezogen werden. Er entwickelte diese zu einer der angesehensten und erfolgreichsten Heilanstalten des Landes.

Nikolaus Lenau – von Ungarn in die USA

Der berühmteste Patient, den man hier bisher behandelte, war Nikolaus Franz Niembsch Edler von Strehlenau. Der Name sagt uns nicht unbedingt etwas, denn bekannt wurde er unter seinem Künstlernamen Nikolaus Lenau. Der österreichische Dichter wurde 1802 im ungarischen Csatád geboren, sein Vater, ein Beamter, war spielsüchtig und hinterließ bei seinem Tod 1807 eine verarmte Familie. Die Mutter ermöglichte Lenau den Besuch des Gymnasiums in Pest, später holte der Großvater den Enkel nach Wien. Hier und in Pressburg studierte Lenau ab 1822 Philosophie, Landwirtschaft und Medizin. Gleichzeitig schrieb er Gedichte.

Zur Mutter besaß er eine extrem starke Bindung, als sie 1829 starb, zeigte Lenau erste Anzeichen einer Depression. Zwar legte er 1831 in Heidelberg seine Doktorprüfung ab, widmete sich aber dank einer Erbschaft seitens der Großmutter mehr und mehr dem Schreiben. Durch den Stuttgarter Romantiker Gustav Schwab wurde der berühmte Cotta-Verlag auf ihn aufmerksam. Ein Jahr später erschien bei ihm eine erste Sammlung von Nikolaus Lenaus Gedichten.

Die Hälfte seines großen Vermögens verspekulierte Nikolaus Lenau an der Börse. In der Hoffnung, es wieder vergrößern zu können und auch aus romantischen Vorstellungen vom Land der Freiheit heraus, schiffte er sich im Sommer 1832 nach Nordamerika ein. In Ohio kaufte er 400 Morgen Land, kümmerte sich aber nie wirklich darum. Im darauffolgenden Frühling kehrte er enttäuscht von den materialistisch orientierten USA, den „verschweinten Staaten von Amerika“, nach Deutschland zurück.

Lenau und die Frauen

Im deutschsprachigen Raum war Lenau inzwischen zum bekannten Dichter aufgestiegen. Seinen Schaffensdrang beflügelte dieser Erfolg erheblich. Er publizierte in schneller Folge den „Faust“, „Savonarola“, „Die Albigenser“, das Fragment „Don Juan“ und viele, viele Gedichte.

Es hätte alles so gut sein können, wären da nicht die Frauen gewesen. Mit 19 Jahren hatte er eine Affäre mit Berta Hauer, der unehelichen Tochter einer Haushälterin. Nach seiner Rückkehr aus den USA verliebte er sich in Wien in Sophie von Löwenthal, der Ehefrau seines wohlhabenden Freundes Max. Sophie empfand ihren Mann zwar als Mittelmaß, wollte ihre Ehe an seiner Seite aber nicht aufgeben. Gleichzeitig hatte es ihr das romantische und berühmte Dichtergenie Lenau angetan. In der Folge begann ein ständiges Spiel von Annäherung und Distanzierung.

Lenau schaffte es nicht, sich von Sophie zu lösen, wobei er 1844 einen ernsthaften Versuch unternahm. Damals lernte er Marie Behrens kennen und verlobte sich mit ihr in Frankfurt am Main. In dieser Zeit klagte er ständig über Kopfschmerzen. Seine Stimmung war gereizt, dann wieder euphorisch. Er reiste nach Wien, informierte Sophie über seine bevorstehende Heirat. Sie war ebenso wie Lenaus Verwandte gegen diese Ehe. Marie sei nicht reich genug, und er habe kein sicheres Einkommen, lauteten die Gegenargumente. Lenau machte sich Sorgen und kam erheblich ins Schwanken, hielt aber an der Verlobung fest.

Nikolaus Lenau, um 1844

Nikolaus Lenau, um 1844

Am 20. September traf Nikolaus Lenau in Stuttgart bei dem befreundeten Ehepaar Reinbeck ein. Er wollte ein oder zwei Wochen bleiben und dann zur Hochzeit nach Frankfurt weiterreisen. Emilie Reinbeck berichtet:

Er kam sehr angegriffen, mit starkem Schnupfen, klagte, daß er viel an Schlaflosigkeit und Nachtschweiß gelitten […].

Nach einem Brief Sophies, in dem sie ihm nochmals dringend von der Heirat abriet, entwickelte Lenau eine extreme Unruhe. Nun überlegte er sich doch, die Verlobung zu lösen.

Lenaus Weg ins Schloss Winnental

Am Sonntag den 29. September, wie er eine Weile, stumm, finster brütend am Frühstück gesessen hatte, brach er in einen heftigen Affekt aus mit Klagen und Thränen. Als er sich auf unsern herzlichen Zuspruch wieder gefaßt hatte, bemerkte er eine Spannung auf der rechten Seite des Gesichts. Er äußerte die Besorgnis, es werde ihn doch nicht gar der Schlag gerührt haben, und schalt seine allzu große Reizbarkeit.

So Emilie Reinbeck. Der Arzt beruhigte ihn zunächst. Tatsächlich mehrten sich im Lauf der nächsten Tage aber die Symptome, die für einen Schlaganfall sprachen. Es folgte ein ständiges Auf und Ab. Lenaus Freunde machten sich große Sorgen. Der Weinsberger Dichterarzt Justinus Kerner schreibt am 7. Oktober an die Frau von Gustav Schwab:

Du kannst denken, wie Niembschs Unglück auch mich betrübt und beschäftigt. Nie hätte ich geglaubt, daß Niembsch in solche Krankheit verfallen könnte, weil er neben der großen Phantasie doch auch einen sehr klaren Verstand hatte und sich ihm nichts in Weg stellte. […] Es dauert mich unsäglich. Cotta [Lenaus Verleger] schrieb mir auch ganz verzweiflungsvoll.

Am 13. Oktober erlebte Lenau einen ersten Tobsuchtanfall und unternahm einen Selbstmordversuch. Drei Tage später äußerte er Wahnvorstellungen. Als er zu sich kam, wusste er sehr genau, an welchem Abgrund er stand. Die Phasen der geistigen Umnachtung wurden immer intensiver und länger. Eine schreckliche Nacht folgte:

Nach einer halben Stunde verfiel er wieder in eine tobende Unruhe, rannte im Zimmer herum, wollte Türen und Fenster einschlagen, zerschlug und zerriss, was er unter die Hände bekommen konnte, so dass die Wärter sich fast nicht mehr zu helfen wussten. Er schrie nach Hilfe, nach der Polizei, drohte das Haus anzuzünden, einzureißen, dass kein Stein mehr auf dem anderen bliebe […]. So ging es die ganze Nacht durch – Kein Wärter wollte mehr bleiben. Alles war erschöpft, niedergeschmettert von diesen schrecklichen Stürmen.

Lenau als Patient in Winnental

Der Dichter wehrte sich vehement gegen die herbeigeholten Ärzte. Seine Freunde sahen jetzt ein, dass sie nichts mehr für ihn tun konnten. Am Ende wurde er in einer Zwangsjacke in die Heilanstalt Winnental gebracht.Justinus Kerners Sohn Theobald, Arzt wie der Vater, hielt in seinen Erinnerungen fest:

„Lenau wahnsinnig!“ Diese schreckliche Kunde erschütterte seine schwäbischen Freunde, besonders meinen Vater, doch sie kam nicht unerwartet. Sein zeitweise seltsames Tun und Reden, seine plötzlich auftretenden Launen, mit denen er oft seine besten Freunde beleidigte, ihnen empfindlich wehe tat […] hatten sich nur durch sein äußerst zerrüttetes Nervensystem erklären lassen, und es war vorauszusehen, daß nur noch wenig dazugehörte, eine Katastrophe herbeizuführen.

In Winnental war Lenau Patient 1. Klasse. Er lebte in einem Einzelzimmer, wurde aber in eine „Tobzelle“ gebracht, wenn er aggressiv wurde. Schmerzen scheint er nicht gehabt zu haben, stattdessen quälten ihn Angstzustände und Bewusstseinstrübungen. Dr. Zeller verordnete als Therapie „Ruhe, Schlaf, Ordnung“, das „Verhindern übermäßigen Kaffee- und Tabakgenusses“, die „Hebung der darniederliegenden Ernährung“ und „beruhigende Narcoticas mit gelinder Tonisierung des Rückenmarks“.

Im Garten des heutigen Klinikums Schloss Winnenden

Im Garten des heutigen Klinikums Schloss Winnenden

Immer wieder gab es Lichtblicke, so, wenn Lenau plötzlich zu Geige und Gitarre griff. Der Anstaltsarzt, selbst Lyriker, versuchte ihn zum Dichten und zu „Tatendrang“ zu animieren.

Keine Chance auf Heilung

Auch die Besuche seiner Freunde erfreuten ihn. Einer davon war Justinus Kerner. Lenau hatte sein letztes und neuestes Gedicht auf seiner vorangegangenen Reise von Wien nach Stuttgart gedichtet, es dann aber zerrissen. Nun diktierte er es Kerner aus dem Kopf:

Eitel nichts!

’s ist eitel nichts, wohin mein Aug ich hefte! / Das Leben ist ein vielbesagtes Wandern, / Ein wüstes Jagen ists von dem zum andern, / Und unterwegs verlieren wir die Kräfte.

Ja, könnte man zum letzten Erdenziele / Noch als derselbe frische Bursche kommen, / Wie man den ersten Anlauf hat genommen, / So möchte man noch lachen zu dem Spiele.

Doch trägt uns eine Macht von Stund zu Stund, / Wie’s Krüglein, das am Brunnenstein zersprang, / Und dessen Inhalt sickert auf den Grund, / So weit es ging, den ganzen Weg entlang. / Nun ist es leer; wer mag daraus noch trinken? / Und zu den andern Scherben muß es sinken.

Danach verfiel er wieder in Delirien. Theobald Kerner schreibt darüber:

Obgleich dieser Tag einer der klarsten und ruhigsten seit lange war, so hielt mein Vater schon damals Lenau für unheilbar, äußerte das gegen seine Freunde in Stuttgart und meinte, das beste wäre, Lenau in sein Vaterland zu senden.

Genau das geschah im Mai 1847. Auf Wunsch seiner Familie wurde Nikolaus Lenau in die Privatirrenanstalt von Dr. Görgen in Oberdöbling bei Wien gebracht. Dort lebte er in immer stärkerem Dämmerzustand noch sechs Jahre, bis er am 22. August 1850 verstarb. Heute geht man davon aus, dass er sich Jahre zuvor mit Syphilis angesteckt hatte. In der Folge sei eine „progressive Paralyse“ ausgebrochen, die zu einer Entzündung des Gehirns und der Hirnhäute führte. In unserer Zeit wäre der Dichter wahrscheinlich durch eine hohe Gabe von Penicillin heilbar gewesen.

Literatur

Müller, Martin Eitel: 175 Jahre Heilanstalt Winnenden. „Ich bin kein Narr …“. Jubiläumsveröffentlichung der Stadt Winnenden und des Zentrums für Psychiatrie Winnenden. Ubstadt-Weiher [u.a.]: Verlag für Regionalkultur, 2009.

 

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Andrea Hahn, Foto: Chris Korner

Mein Name ist Andrea Hahn, und ich liebe es, Geschichten zu erzählen – Geschichten von Menschen, die mir begegnen, und Geschichten von Menschen, die unsere Welt längst verlassen haben. Außerdem besuche ich gerne Orte, die Geschichten zu erzählen haben, und liebe (fast) alles, was blüht, auf vier Beinen läuft, durch das Wasser schwimmt und die Luft fliegt. Auch davon schreibe ich.

Doch nicht nur ich schreibe hier, gerne nehme ich auch Gastbeiträge auf, die sich für die Seite eignen. Die Berliner Bloggerin Nina Süßmilch hat es vorgemacht.

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