Bei Lebzeiten und ein halb Jahrhundert nach dem Tode für einen großen Geist gehalten werden, ist ein schlechter Beweis, daß man es ist. Durch alle Jahrhunderte aber hindurch dafür gehalten werden, ist ein unwidersprechlicher.
(Gotthold Ephraim Lessing)
Ab wann gilt man als großer Geist? Ab wann ist ein Ort ein mythischer Dichterort? Gotthold Ephraim Lessing hat im Grunde beide Fragen beantwortet, wenn auch die zweite Frage nur indirekt. Weder die Gegenwart noch die nächsten fünfzig Jahre verraten, was sich in das kollektive Gedächtnis derart intensiv und auch positiv einprägen wird, dass es überzeitliche Geltung erreicht. Manchmal können wir vermuten, welcher Künstler, Politiker oder sozial engagierte Mensch unserer eigenen Zeit es schaffen wird, doch es bleibt bei der Vermutung. Anders sieht es mit Persönlichkeiten aus, die vor ein, zwei, drei oder noch mehr Jahrhunderten wirkten.
Dass Johannes Kepler, Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu den international geachteten und beachteten Größen der Geistesgeschichte gehören, bestreitet wohl keiner. Auch Hermann Hesse hat sich diesen Ruf erworben, die Nobelpreismedaille als sichtbaren Beweis im Nachlass. Christian Friedrich Daniel Schubart, Justinus Kerner, Ludwig Uhland, Wilhelm Hauff, Gustav Schwab erreichten einen nicht ganz so hohen, aber doch überregional und weit über ihre Gegenwart hinausreichenden Rang. Mancher hat zu seinen Lebzeiten vielleicht nicht viel mehr dazugetan, als ein bunter Hund zu sein, wurde aber von der Nachwelt durch eine Vermischung von Dichtung und Wahrheit zu ungeahnter Größe erhoben – Faust ist ein schillerndes Beispiel. Es gibt aber auch die fast Vergessenen wie den Warmbronner Christian Wagner, die es verdient hätten, im Gedächtnis der späteren Generationen nachhaltig verankert zu werden, und die es aus welchen Gründen auch immer nur schwer schafften – zumindest bis dato.
Die Orte, an denen diese mehr oder weniger Großen zur Welt kamen, aufwuchsen, wirkten oder begraben wurden, die sie liebten oder mieden, die sie bedichteten oder die ihnen angedichtet wurden, entwickelten sich zusammen mit ihnen zu Stätten, die in unserer Wahrnehmung etwas Besonderes sind. Der Hohenstaufen und Kloster Lorch wurden als Stauferstätten zu Wallfahrtsorten auf dem Weg zur deutschen, Schloss Lichtenstein auf dem Weg zur württembergischen Identitätsfindung. Friedrich Schillers Geburtsort und der Ort seiner schulischen Leidenszeit stiegen zu begehrten Zielen derjenigen auf, die sich nach Freiheit sehnten. Im Gegenzug wurde und wird die Festung Hohenasperg als Schreckensort für willkürlichen Freiheitsentzug und der Tübinger Hölderlinturm als Schreckensort für Freiheitsentzug aus Krankheitsgründen wahrgenommen. Dass beide mit wunderschöner Aussicht gesegnet sind, verstärkt die Wirkung, die von ihnen ausgeht. Dies gilt auch für die Grabkapelle auf dem Württemberg, die durch ihre Lage über dem Neckar und auf der Kuppe eines Weinbergs besticht. Ebenso wie der Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof wird sie aber vor allem als romantische Stätte des Todes und des Weiterlebens in der Liebe und im Gedenken durch die Nachwelt wahrgenommen. Romantik und Idylle sind es auch, die den Reiz von Weinsberg mit dem Kernerhaus und der Weibertreu sowie des Schwarzwaldstädtchens Calw als Dichterstätten erheblich steigern. Leonberg mit Gebersheim und vor allem das ländliche Warmbronn zehren ebenfalls von einem solchen Status, wobei sie sich erheblich schwerer tun.
Gerade die letztgenannten Orte werfen die Frage auf, was ein mythischer Dichterort eigentlich ist und welche Stätten man dazurechnen kann. …