Buchbesprechung* John Ironmonger: „Der Wal und das Ende der Welt“
Mein Mann kennt mich. Kürzlich brachte er mir John Ironmongers Roman „Der Wal und das Ende der Welt“ mit, der Ende März beim Verlag S. Fischer erschien. Er weiß, dass ich – Brexit oder nicht – ein bekennender Fan unserer britischen (Fast-)Nachbarn bin. Deswegen bringt er mir gerne Bücher mit, die auf der Insel spielen. Ich war etwas skeptisch, denn weder der Titel noch der etwas magere Klappentext zogen mich an. Doch als ich Nachteule wieder einmal nicht einschlafen konnte, habe ich danach gegriffen. Das war ein Fehler, denn als Einschlafmittel eignet sich der 480 Seiten starke Roman nicht. Im Gegenteil, ich wurde während der Lektüre wacher und wacher.
Meer, Hügel, Dörfer
John Ironmongers Roman „Der Wal und das Ende der Welt“ spielt am Ende der Welt. In Cornwall, dort, wo die Straße nicht mehr weiterführt. Ironmonger hat Erfahrung mit solchen Orten. Er wurde zwar 1954 in Nairobi geboren, zog aber im Alter von 17 Jahren mit seinen Eltern nach Cornwall in den kleinen Küstenort, aus dem seine Mutter stammt. Er sieht sich als „Cornishman“, obwohl er in Kent zur Schule ging, in Nottingham und Liverpool Zoologie studierte, in Nigeria und an vielen Ort des Vereinigten Königreichs arbeitete, zuletzt in der IT-Branche. Inzwischen lebt er mit seiner Frau in Parkland, einem ebenfalls kleinen Ort. Er liegt auf der englischen Halbinsel Wirral (Cheshire), im Mündungsbereich des River Dee. Ausgedehnte Salzwiesen und ein weiter Horizont markieren dieses Ende der Welt.
Ein Heiliger als Schlüssel zur Interpretation?
Erfahrungen mit Cornwall und der Halbinsel Wirral dürften zu dem Fischerdorf St. Piran zusammengeflossen sein. Sofort klingeln in guter alter Interpretationsmanier meine Alarmglöckchen. Gibt der Name, obwohl im Buch nie diskutiert, einen Deutungshinweis? Ironmonger hat seinen Schauplatz nach einem der Nationalheiligen von Cornwall benannt. Viele würden sogar behaupten, nach dem Nationalheiligen. Letztlich ist man sich nicht einig, ob ihm, dem heiligen Michael oder dem heiligen Pedrock die Ehre zukommt. Einig ist man sich auch nicht, ob der Missionar Piran ursprünglich aus Irland kam. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß.
Mein Verdacht war, dass er der Schutzheilige der Walfischer oder wenigstens der Börsenspekulanten ist. Da lief ich allerdings ins Leere. Er ist der Schutzheilige der Bergleute in den Zinngruben, doch die kommen im Roman nicht vor. Wikipedia verriet mir schließlich, dass die heidnischen Iren (Gab es die jemals?) den Heiligen an einen Mühlstein gekettet und über eine Klippe in die stürmische See geworfen hätten. Die sei sofort still geworden, sodass er sicher nach Cornwall und dort ans Land trieb. Ganz falsch ist die Spur nicht, ganz richtig ist sie aber auch nicht. Zumindest haben wir es nicht mit irischen Heiden, sondern mit Londoner Investmentbankern zu tun. Außerdem stammt unser Held nicht von der grünen Insel, sondern ist englisch-dänischer Abkunft. Das mit Pirans Wundertätigkeit lässt sich auch nicht wirklich übertragen. Es sei denn, wir halten jemanden mit wachem Verstand und analytischen Fähigkeiten für ein Wunderwerk.
Die Frage nach dem Geburtstag
Traditionell wird das Fest des Heiligen am 5. März gefeiert, wobei auch das etwas umstritten ist. Je nachdem, welche einst real existierende Person man hinter St. Piran vermutet, kann es auch der letzte Montag im Oktober oder der 18. November sein. Mit den beiden letzten Versionen wären wir immerhin in der Erzählzeit des Romans angelangt. Die liegt nämlich nicht etwa im beginnenden und hoffnungsfrohen Frühjahr. Stattdessen haben wir es mit jener unwirtlichen Jahreszeit zu tun, die wir mit Tod assoziieren. Erzählzeit und Handlung entsprechen insofern einander. Der Höhepunkt liegt aber nicht etwa auf Allerheiligen oder dem Totensonntag. Auch nicht am 5. März, so wichtig ist Piran für den Roman wohl doch nicht. Für den Höhepunkt wird ein herzerwärmender Feiertag benutzt, wiederum passend zur Handlung.
Dystopie oder Utopie?
Im verregneten Spätherbst und an einem Ort am Ende der Welt, an dem es nichts gibt außer hügeliger Küste und Meer, liebenswerten und skurrilen Bewohnern, stranden ein nackter Londoner Analyst und ein Wal. Was sich daraus entspinnt, ist eine Geschichte in bester britischer Erzählmanier – spannend, witzig, mit schwarzem Humor und in ebenso klarer Sprache wie epischer Breite, die nie langatmig wird. Manches ist vorhersehbar, doch immer wieder ereignet sich Überraschendes. Und der Schluss ist, wie ein Schluss sein sollte, doch den verrate ich natürlich nicht.
Man kann das Buch als Dystopie lesen, das Ende der Welt eben – nicht nur geographisch. Es zeigt mit viel Sachkenntnis, wie ungeheuer einfach und schnell unsere Zivilisation untergehen könnte. Die Erläuterungen des Autors verstärken den Eindruck. Aus ihnen sprechen wie aus dem ganzen Roman der Zoologe und der IT-Experte. Seine Kenntnisse verstärken das ungute Gefühl, dem ich mich nicht entziehen konnte. Dem ich mich bis heute nicht entziehen kann. Im Grunde ist es aber eine Utopie und ein Buch über die Menschlichkeit. Es zeigt, wie viel wir vermögen, wenn wir nicht gegeneinander, sondern miteinander handeln. Eine Schwachstelle hat diese Utopie allerdings: Sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in einer Metropolregion wie Stuttgart funktionieren. Dazu braucht es wohl einen kleinen Ort am Ende der Welt. Einen Ort, an denen liebenswürdige, skurrile Dorfbewohner leben. Einen Ort, an dem Wale stranden und Analysten, die in einer gewissen St.-Piran-Tradition stehen.
Informationen
John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2019.
Original: Not Forgetting the Whale, 2015.
Deutsche Übersetzung von Maria Poets und Tobias Schnettler
Hardcover, 480 Seiten, 22.00 € (D), ISBN: 978-3-10-397427-0
*Es handelt sich hier um ein Buch, das ich mit Begeisterung gelesen habe. Ich habe die Besprechung nicht im Auftrag oder gegen Bezahlung geschrieben, insofern ist es keine bezahlte Werbung. Es handelte sich aber um ein Rezensionsexemplar, das auf dem Schreibtisch meines Mannes landete. Da es nicht käuflich erworben wurde, ist es ja dann vielleicht doch Werbung. Ich glaube, jetzt wäre ein Wal gut, der mich aus dem Paragrafenmeer fischt. (Und mich in Cornwall in einem kleinen Dorf am Ende der Welt ablegt, ein Traum.) Ich behaupte damit nicht, dass ich Piran oder Jonas bin und mir eine Walrettung zusteht. Wer weiß, in welche rechtlichen Fallstricke das wiederum führen würde.