Marbach am Neckar
Ein Osterspaziergang
Osterzeit ist immer auch Spaziergangs- und Museumszeit – und ich kenne einen Ort, ich kenne ihn sogar sehr gut, an dem man beides verbinden kann: Marbach am Neckar. Seit fast 30 Jahren wohne ich in dem Städtchen, das ich vorher oft als „forschender Gast“ des Deutschen Literaturarchivs besuchte. Es liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Ludwigsburg und im Speckgürtel von Stuttgart. Der Neckar und Weinberge rahmen Marbach auf zwei Seiten ein, der historische Stadtkern zieht sich einen Hügel hinauf. Hoch über Fluss und Altstadt prangen das Schiller-Nationalmuseum und das Literaturmuseum der Moderne.

Leitsystem zu Marbachs vielen Museen
Die erste Ansiedlung wurde unterhalb der Alexanderkirche und damit außerhalb der späteren Stadtmauern angelegt, die erste urkundliche Erwähnung fällt in das Jahr 972. Die „Altstadt“ ist dagegen weitgehend eine Stadt aus dem 18. Jahrhundert, da Marbach im Zuge des Pfälzischen Erbfolgekriegs 1793 eingeäschert und in den folgenden Jahrzehnten neu errichtet wurde. Im 18. Jahrhundert kamen auch die beiden bedeutendsten Sprösslinge der Stadt zur Welt, der Mathematiker und Astronom Tobias Mayer (1723–1762) und der Dichter Friedrich Schiller (1759–1805). Aus diesem Grund gibt es hier keines der üblichen Mittelalterfeste, sondern in unregelmäßigen Abständen das 18.-Jahrhundert-Fest. Am 3. und 4. Mai ist es wieder soweit, Gewandete, Schausteller und Schaulustige aus weitem Umkreis werden in der ehemaligen Oberamtsstadt zusammenkommen und das historische Fest feiern. Doch auch unabhängig vom 18.-Jahrhundert-Fest ist Marbach lohnendes Ziel für einen Besuch.
Reich an Museen – Museumsreich
Eine Wanderung durch die engen alten Holdergassen, in denen einst Handwerker, Bauern und Weingärtner (auf Schwäbisch „Wengerter“) lebten, ist ein besonderes Highlight. Viele der Häuschen werden liebevoll gepflegt und die Gassen gern mit dem Adjektiv „idyllisch“ umschrieben. Dennoch wirkt das Quartier nicht so, als wäre es eben mal Disneyland entsprungen.
Gleich fünf Altstadtmuseen – Schillers Geburtshaus, Tobias Mayer Museum, Fritz Genkinger Kunsthaus, Ölmühle Jäger und das Museum im Torturm – bereichern das Kulturleben. Die Weinstadt Marbach besitzt zudem mit der Mikrobrauerei „Salzsscheuer“ von Dieter Baader in der Mittleren Holdergasse ein Eldorado für Fans von Hopfen- und Malz-Spezialitäten – natürlich nicht ohne ebenfalls Museumscharakter aufzuweisen.
Wer über die Altstadt hinaus und hinauf zur Schillerhöhe wandert, wird einen weiteren Museumskomplex vorfinden, und der ist in einem schwäbischen Ort mit gut 15.000 Einwohnern eher nicht zu erwarten: das Deutsche Literaturarchiv (DLA) mit dem Schiller-Nationalmuseum (SNM) und dem Literaturmuseum der Moderne (LiMo). Das Literaturarchiv ist Forschungsstelle und Anziehungspunkt für Literaturwissenschaftler:innen aus der ganzen Welt.

Literaturmuseum der Moderne im herbstlichen Abendlicht
Das SNM, das 1903 eingeweiht wurde, ist wegen Umbaus derzeit geschlossen und wird voraussichtlich Ende Juni wiedereröffnet. Dann wird dort Friedrich Schiller im Mittelpunkt stehen, ohne dass die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts ausgeblendet wird. Bis es so weit ist, sind Teile der ständigen Ausstellung ins benachbarte LiMo umgezogen.
Kafkas Echo sollte man Gehör schenken
Das an klassischer Architektur orientierte, aber modern interpretierte LiMo wurde von David Chipperfield Architects geplant, 2006 eröffnet und mehrfach ausgezeichnet. In der Dauerausstellung werden vielfältige Exponate zur Literatur des 20. Jahrhunderts und ein „virtuelles Museum des 21. Jahrhunderts“ präsentiert. Bis zur Wiedereröffnung des SNM sind zudem die „Schwaben“ Schiller, Hölderlin, Kerner und Mörike hier beheimatet.

Justinus Kerner in der temporären Ausstellung im LiMo
Neben diesen Ausstellungen wird noch bis zum 22. Juni die Wechselausstellung „Kafkas Echo“ gezeigt. Sie wurde in Zusammenarbeit des DLA mit der National Library of Israel und der Bodleian Libraries Oxford entwickelt, die weltweit die größten Kafka-Bestände besitzen. Eröffnet wurde sie am 3. Juni 2024 zu Kafkas 100. Todestag.

Eingang zur Ausstellung „Kafkas Echo“ im LiMo Marbach
1988 ersteigerte das DLA für damals spektakuläre 3.586.955 DM das Manuskript von Kafkas Roman-Fragment „Der Prozess“ bei Sotheby’s in London. Es wird in der Ausstellung ebenso gezeigt, wie Briefe, Fotos und Erinnerungsstücke von Zeitgenossen und Wegbegleitern präsentiert werden.
Das „Prozess“-Manuskript wurde in 16 Sammlungen von Manuskriptseiten überliefert, es ist nicht bekannt, wie Kafka die genaue Abfolge plante. An einem interaktiven Board können die Besucher:innen den verschiedenen Ausgaben nachforschen, aber auch eine eigene Version zusammensetzen.

Ausschnitt aus der interaktivn Station zum Manuskript von Kafkas „Prozess“
In einem Kafka-Lab können sie mittels VR-Brille das Manuskript erforschen. Auch dem Echo, das Kafka mit seinen Werken und durch sein Leben hervorgerufen hat, wird dem Titel entsprechend nachgeforscht. So sind unter anderem Exponate von Hannah Arendt, Peter Handke, W. G. Sebald oder Martin Walser zu sehen.

Bildwand mit Barbara Köhler zum Echo, das Kafka hervorgerufen hat
Vom SUP zum Snack in Marbach am Neckar
Wer in der Region Stuttgart lebt oder hier zu Besuch ist, sollte unbedingt bald in die S-Bahn oder ein anderes Verkehrsmittel steigen, sich aufs Rad schwingen oder einfach einen Spaziergang in die Geburtsstadt von Tobias Mayer und Friedrich Schiller machen. Selbst mit dem Kanu oder einem SUP kann man anlanden. Am besten plant man gleich ein oder zwei Tage ein, denn allein schon die Museen bieten Stoff für viele Stunden. Zudem kann man sich in der Stadt oder am Neckar bei Kaffee, Kuchen und Eisspezialitäten, zu einem Snack oder ausgedehnten Abendessen niederlassen. Bei Letzterem hat man dann die Qual der Wahl zwischen schwäbischen, italienischen, spanischen, griechischen, chinesischen oder Balkanspezialitäten.
Die kleine Landstadt Marbach im Speckgürtel von Stuttgart ist kein Geheimtipp, dafür ist es zu bekannt, aber ein attraktives Ausflugsziel ist es allemal.

Marbach am Neckar, Torturm bei Nacht