Wilhelmine Canz

Yes, she did

Für LitSpaz arbeitete ich vor einiger Zeit einen literarischen Spaziergang durch Weinstadt-Großheppach im Remstal, Region Stuttgart aus. Wie so oft bei solchen Recherchen dachte ich erst: „Na ja, okay, irgendetwas Literarisches wird sich schon finden.“ Und wie sooft dachte ich mir am Ende: „Klasse, was man so alles findet.“ Am 11. August werde ich diesen Spaziergang erneut halten, bei der Planung habe ich ihn jetzt wieder durchgearbeitet und mich besonders über ein Fundstück gefreut. Hier mehr dazu.

Im Wikipedia-Artikel zu Großheppach stehen zwei Persönlichkeiten, ein Oberamtmann und ein jung verstorbener, allerdings wirklich interessanter Dichter. Die vielleicht größte Persönlichkeit, die der Ort sein Eigen nennen könnte, ist nicht aufgeführt: Wilhelmine Canz. Sie war am 27. Februar 1815 in Hornberg (Ortenauskreis) als Tochter eines Arztes geboren worden. Da der Vater früh starb, folgte sie zusammen mit der Mutter dem studierenden Bruder nach Tübingen, wo sie mit der Hegel’schen Philosophie in Berührung kam, aber auch mit Theologie. Zusammen mit der Mutter führte sie dem Bruder den Haushalt, als dieser als Pfarrer an verschiedenen Orten wirkte. In Bischoffingen am Kaiserstuhl kam sie mit der Herrenhuter Brüdergemeinde in Kontakt, sammelte Erfahrung in der Arbeit mit Kindern. Hier versuchte sie sich zum ersten Mal an der Gründung einer Anstalt für Kleinkinderpflegerinnen, scheiterte aber. Als Bruder und Mutter kurz hintereinander starben, zog sie 1855 mit ihrer Stiefnichte Amalie Rhode nach Großheppach. Ihre Mutter war aus dem Remstal, daher hatte sie einen Bezug zu der Gegend. Außerdem lebte sie gerne auf dem Land.

Nur nicht aufgeben

Hier erfüllt sie sich ihren Traum und gründet – nach schweren Anfängen – eine Kinderschule. Ab 1856 begann sie damit, Lernschwestern für die Kinderpflege auszubilden. Sie kannte die Idee Friedrich Fröbels, orientierte sich auch daran, gab aber ihrer Einrichtung eine stark christliche Ausrichtung. Eigentlich war das in damaliger Zeit ein absolut verrücktes Ansinnen, aber die Gründerin war willensstark, und nach schweren Anfängen gedieh ihr Werk dann doch zu einem erfolgreichen Unternehmen, so erfolgreich, dass Wilhelmine Canz nach sieben Jahren das ehemalige Gasthaus Löwen mit Gemüse- und Baumgarten kaufen konnte. Und 1870 besuchte sogar die württembergische Königin Olga die Bildungsanstalt für Kleinkinderpflegerinnen. Wilhelmine Canz starb 1901, aber ihr Werk wurde fortgeführt. 1971 wurde die Evangelische Fachschule für Sozialpädagogik errichtet, 1989 eine Evangelische Fachschule für Altenpflege, 1994 das Zentrum für Altenpflege Wilhelmine-Canz-Haus, später noch eine Kindertagesstätte für Kinder ab einem Jahr und das Altersheim Theresienheim. Und was hat das alles mit Literatur zu tun? Viel!

Die, die sie für die Gründung um Unterstützung ersucht hatte, lehnten ab bzw. blieben gleichgültig, darunter auch der Großheppacher Pfarrer. Aber Wilhelmine Canz war nicht mittellos. Sie hatte in der Zeit um den Tod ihres Bruders einen Roman geschrieben und anonym veröffentlicht: „Eritis sicut Deus“. 1853 erschien die erste Auflage, zwei Jahre später die zweite. Darin wird geschildert, wie Beziehungen leichtfertig eingegangen und beendet werden, Ehen scheitern und gebrochen werden, Mord kommt ebenfalls vor. Es sollte ein drastisches Sittengemälde sein, das die verderblichen Einflüsse der modernen Philosophie – des Hegelianismus – aufzeigt, denn der Hauptdarsteller ist ein hegelianischer Professor, der Freigeister um sich schart, am Ende aber doch bekehrt wird. Mit dem Honorar aus den beiden Auflagen und einer anonymen Spende konnte Wilhelmine Canz sich mit ihrer Nichte in Großheppach in einem passenden Haus einmieten und die Schule gründen.

Die Welt war damals schon klein

Für mich persönlich gab es noch eine ganz besondere Entdeckung bei der Recherche: Die Veröffentlichung des Romans hat möglicherweise der christliche Sozialreformer Viktor Aimé Huber befördert. Auf alle Fälle besuchte er Wilhelmine Canz zusammen mit seiner Frau in der noch schwierigen Großheppacher Anfangszeit 1857, und sie schreibt, dass sich seine und die Zuneigung seiner Frau „wie ein roter Faden durch mein Leben gezogen“ habe. Viktor Aimé Huber war von klein auf an starke Frauen wie Wilhelmine Canz gewöhnt, und vielleicht war das einer der Gründe, warum er das Canz‘sche Werk so unterstützte. Seine Mutter war nämlich Therese Huber, die erste deutsche Berufsjournalistin und eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Goethezeit. Auch sie war immer sehr an Pädagogik interessiert gewesen, hatte sich überlegt, Erzieherin zu werden und Viktor Aimé in das neu gegründete Schweizer Erziehungsinstitut von Philipp Emanuel Fellenberg gegeben, das damals noch keiner kannte und für das die Journalistin derart intensiv und erfolgreich die Werbetrommel schlug, dass es bald eines der damals bedeutendsten Institute war. Ich habe über Therese Huber meine Magisterarbeit geschrieben, meine ersten Bücher veröffentlicht und sehr viel geforscht. Die Erwähnung ihres Sohnes in so unerwartetem Kontext war wie die Begegnung mit lieben alten Bekannten. Tja, was man doch alles so finden kann, wenn man sich einer Recherche hingibt…

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Andrea Hahn, Foto: Chris Korner

Mein Name ist Andrea Hahn, und ich liebe es, Geschichten zu erzählen – Geschichten von Menschen, die mir begegnen, und Geschichten von Menschen, die unsere Welt längst verlassen haben. Außerdem besuche ich gerne Orte, die Geschichten zu erzählen haben, und liebe (fast) alles, was blüht, auf vier Beinen läuft, durch das Wasser schwimmt und die Luft fliegt. Auch davon schreibe ich.

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