Kloster Allerheiligen – eingebettet zwischen Wiesen, Wäldern und Wasserfällen
Vor einigen Tagen recherchierte ich für einen Artikel im Magazin „Mein Ländle“ im Hochschwarzwald. Auf der Rückreise beschloss ich, zum ehemaligen Kloster Allerheiligen zu fahren, und zwar zu jenem Kloster Allerheiligen, das auf der Gemarkung von Oppenau liegt. Kloster Allerheiligen gibt es nämlich zweimal, zum einen in Schaffhausen, zum anderen im Schwarzwald. Chris Korner, mit dem ich mein Buch „Poesie im Kreuzgang“ gemacht habe, wäre von seinem GPS fast in das falsche Allerheiligen geleitet worden und hat es gerade noch gemerkt. Ich war also gewarnt.
Amerikaner im Schwarzwald
Nicht in die Irre gingen zwei Amerikaner im Jahr 1878. Sie hatten sich auf den Weg gemacht, das altehrwürdige, geschichtsträchtige Europa zu Fuß zu erkunden. Allerdings fanden sie genug Möglichkeiten, alles andere als zu Fuß zu gehen. Die stark autobiographisch gefärbten Erlebnisse dieser Reise schrieb kein anderer als Mark Twain, der geistige Vater von Huckleberry Finn und Tom Sawyer, in seinem satirischen Reisebericht „A Tramp Abroad“ („Bummel durch Europa“) nieder.
Er und sein Begleiter hatten noch kein GPS-Problem und erreichten die Schwarzwälder Klosterruine Allerheiligen auf einem im Baedeker empfohlenen »alten Weg« tatsächlich per pedes. Sie gingen lange bergauf und kamen erst am späten Nachmittag auf einer Hochebene an. Als sie aus dem dichten Wald heraustraten, sahen sie auf ein wunderschönes Tal hinunter: Allerheiligen. Für die Wanderer war es ein „lauschiges, entzückendes Menschennest“.
Laut Twain war es der Beweis, für den sicheren Instinkt der Mönche, die abgelegensten und doch perfekten Winkel zu finden. Als Amerikaner des 19. Jahrhunderts wusste Mark Twain wahrscheinlich nicht, dass sich mittelalterliche europäische Mönche den Sagen nach weniger auf ihren Instinkt als auf eine Art Gottesurteil verließen. Auch im Fall des in einem Seitenarm des Renchtals gelegenen lauschigen Menschennests Allerheiligen soll es so gewesen sein.
Eseleien um Kloster Allerheiligen
Wie etwa in Maulbronn trug angeblich ein Esel die Verantwortung, mittels eines abzuwerfenden Goldsacks den richtigen Ort für das geplante Kloster zu finden. Allerdings könnte ein wahrer Kern in der Geschichte stecken. Die Stelle, an der um 1195 Kloster Allerheiligen durch Uta von Schauenburg gegründet wurde, war nämlich damals wohl wirklich nur mit Eseln und Maultieren zu erreichen. Der Esel schüttelte jedenfalls den lästigen Sack ab. Der aber war’s noch nicht zufrieden, und so rollte er den Hang hinunter bis in die Talmulde. Wäre er oben liegen geblieben, hätte man das Kloster vielleicht besser erreichen können, was Mark Twain vermutlich lieb und dem Gedeihen Allerheiligens dienlicher gewesen wäre. So aber hatten es die Prämonstratenser, denen Allerheiligen seit 1248 unterstand, recht schwer. Immerhin schafften sie es Ende des 13. Jahrhunderts, eine Wallfahrt zu etablieren, und langsam wuchs das Kloster, das mehrere Brände erleben musste, zu ansehnlicher Größe heran.
Die Schauenburger, verwandt mit den Staufern und Welfen und damit zur Zeit der Gründung den führenden Adelsgeschlechtern, stellten Jahrhunderte später einen heute weit über die Grenzen der Ortenau, des Schwarzwalds, ja Baden-Württembergs und Deutschlands hinaus bekannten Dichter als Verwalter – damals Schaffner genannt – für ihre Besitzungen ein: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen.
Tausendsassa Grimmelshausen
Mit dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs wurde Grimmelshausens unstetem Soldatendasein 1649 ein Schlusspunkt gesetzt. In eben diesem Jahr heiratete er in Offenburg Katharina Henninger. Allein schon wegen der Familiengründung – im Laufe der Zeit sollten sich zehn Sprösslinge einstellen – war es angebracht, ruhigeres Fahrwasser aufzusuchen. Dreizehn Jahre blieb Grimmelshausen den Schauenburgern treu, dann wechselte er als Burgvogt zu einem benachbarten Straßburger Arzt. 1667 trat er schließlich als Schultheiß von Renchen, wo er 1676 auch verstarb, in den Dienst des Straßburger Bischofs. Vermutlich war er ein spätberufener Schriftsteller, zumindest erschien sein erstes Werk erst 1666. Sein berühmter Schelmenroman „Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“ folgte drei Jahre später.
In „Das wunderbarliche Vogel-Nest“ (1672) kommt der Erzähler Michael Rechulin auf seinen Wanderungen zu einem beeindruckenden Kloster samt Dorf, das aufgrund seiner Größe von Weitem wie eine Stadt wirkt. Dank eines unsichtbar machenden Vogelnestes kann sich Rechulin frei wie ein Vogel hier umschauen. Kein Ort ist vor seiner Inspektion sicher, keine Gebräuche oder Gewohnheiten bleiben ihm unbekannt. Die Beschreibung der Baulichkeiten wie der Lage lassen darauf schließen, dass Grimmelshausen beim Benediktinerkloster Schuttern, wenige Kilometer nordwestlich von Lahr gelegen, Anleihen machte. Aber auch Kloster Allerheiligen war dem Dichter nicht unbekannt. Dass Grimmelshausen in seiner Eigenschaft als Schaffner der Schauenburger und auch als Schultheiß von Renchen in geschäftlicher Beziehung zu dem Prämonstratenserkloster stand, ist erwiesen. Möglicherweise schickte er auch einen Sohn dort zur Schule und benutzte die umfangreiche Klosterbibliothek für seine Studien. Verwunderlich wäre es also nicht, sollte Allerheiligen ein Stück weit in das Werk des Simplicissimus-Dichters eingegangen sein.
Kloster Allerheiligens leere Särge
Das Kloster wurde 1802 vom Markgrafen von Baden säkularisiert, eine Wollspinnerei zog in die Gemäuer. 1804 musste es einen weiteren Brand erleben, 1819 erfolgte die Freigabe zum Abbruch. Die Schwarzwälder machten bis zum Verbot im Jahr 1840 regen Gebrauch davon. So fand der 1903 in Baden-Baden geborene Reinhold Schneider schon in seiner Kindheit nur noch eine – wenn auch beeindruckende − Ruine vor. Wie er in „Schicksal und Landschaft“ berichtet, war das Kloster nach den heimatlichen Burgen von Baden-Baden die erste Ruine, die er jemals gesehen hat. Damals war das Leben für ihn noch fest gefügt, seine Kinderwelt heil. Als er etwa fünfzehn Jahre später wiederkam, war nichts mehr, so wie es war.
Die Eltern hatten das renommierte Baden-Badener Hotel Messmer durch die Wirren des Ersten Weltkrieges verloren. Die Mutter hatte die Familie verlassen, der Vater sich erschossen. Schneider selbst hatte einen Selbstmordversuch hinter sich. Er konnte die schlimmen Ereignisse nicht verarbeiten und war depressiv geworden. In Allerheiligen stand er vor den leeren alten Sakophagen. Todessehnsucht bemächtigte sich seiner. Am liebsten hätte er sich wie die Mönche von Allerheiligen in Stein einschließen lassen. Er fragte sich, wo die Toten und ihre Gebeine seien, erhielt aber keine Antwort.
Die Särge von Allerheiligen sollte er in der Folge nie mehr vergessen. Jahre später kam der innerlich zerrissene Schriftsteller in einem anderen Kloster, im Baden-Badener Kloster Lichtenthal, ein Stück weit zur Ruhe. 1950, kurz nach seinem ersten Besuch bei den Lichtenthaler Zisterzienserinnen, schrieb er den Essay über Allerheiligen. Er beendete ihn mit der Feststellung, dass es vermutlich seine Lebensaufgabe gewesen sei, nach der Antwort auf jene Frage zu suchen, die sich ihm angesichts der leeren Särge von Allerheiligen gestellt habe.
Von 620 auf 520 Meter
Die Klosterruine Allerheiligen beeindruckt auch heute noch die Besucher. Auf 620 Metern Höhe über N.N. liegt es geborgen in einer Talmulde. Auf den ersten Blick springen eher die Nebengebäude ins Auge, die der touristischen Nutzung dienen. Tritt man aber durch die ehemalige Vorhalle in die Abteikirche fühlt man sich an Abbildungen von Glastonbury Abbey erinnert. Die Reste des Langhauses lassen auf einen imposanten Kirchenbau und ein wohlhabendes Kloster schließen. Dass es Allerheiligen über einen längeren Zeitraum gut ging, beweist unter anderem die barocke Gartenanlage, die nach der Erhebung des Klosters zur Abtei (1657) erbaut wurde und noch sehr gut erhalten ist.
Schon im 19. Jahrhundert wurde Allerheiligen zu einer Attraktion für Reisende, Mark Twain ist das beste Beispiel dafür. Hand in Hand ging der Ausbau der Klosterruine zum Touristenziel mit der Erschließung der Wasserfälle von Allerheiligen. Der Oberlauf des Lierbachs fällt unterhalb des Klosters über sieben Stufen etwa 100 Meter in die Tiefe. Wie auch die Ruine wurden sie ab den 1840er-Jahren gesichert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Heute führen steile, aber gut begehbare Treppen und auch Brücken durch die tiefe Schlucht. Ein Besuch des Klosters sollte unbedingt mit dem Besuch der Wasserfälle verbunden werden. Am besten parkt man unterhalb der Wasserfälle und wandert nach oben zum Kloster, wo in dem lauschigen Menschennest eine Erfrischung wartet. Man kann es natürlich auch wie Mark Twain machen und aus größerer Entfernung hierher wandern, denn es führen viele Wege nach Allerheiligen.
Literatur
Breuer, Dieter: Grimmelshausen und das Kloster Allerheiligen. In: Simpliciana 25 (2003). S. 143−175.
Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von: Das Wunderbarliche Vogel-Nest. In: H. J. Ch. v. G.: Werke. Bd. 1.2. Hrsg. von Dieter Breuer. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992.
Schneider, Reinhold: Schicksal und Landschaft. Hrsg. von Curt Winterhalter. Freiburg i. Br.: Herder, 1960.
Twain, Mark: Ein Bummel durch Europa. [Übers. von Ulrich Steidorff Carington.] Frankfurt a. M. / Berlin: Ullstein, 1991.
Service
Allerheiligen ist sowohl mit öffentlichen Verkehrsmitteln als auch dem Auto gut zu erreichen. Kostenlose Parkplätze gibt es oberhalb der Klosterruine und am Wasserfall.
Die Wasserfälle sind im Winter aus Sicherheitsgründen nicht zu besichtigen.
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