Recherche zu einem eiskalten Jahr
Vom 23. September bis 3. Oktober 2018 findet auf dem Stuttgarter Schloss Platz das Historische Volksfest statt. Anlass ist das Doppeljubiläum „200 Jahre Cannstatter Volksfest und 100. Landwirtschaftliches Hauptfest“. Die Gründung des Cannstatter Volksfests bzw. des „Wasen“ ging auf das Ende einer extremen Notlage zurück.
Ende der 1980er-/ Anfang der 1990er-Jahre arbeitete ich zu der Schriftstellerin und Journalistin Therese Huber und sichtete etwa 5000 Briefe und Notizzettel von ihr. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es allein etwa 3000 ausführliche Briefe, die ich in Göttingen in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek las. Ich war damals meistens zwei, drei Wochen am Stück dort, den ganzen Tag in der Bibliothek und versank in jenem vergangenen Leben. Eines Tages unterhielt ich mich auf der Heimfahrt im Zug sehr nett mit einer Frau. Wir kamen auf das Wetter zu sprechen, und ich erzählte ihr, dass ich in der Zeitung von einem schweren Hagelsturm in der Schweiz gelesen habe. Sie war sehr erstaunt, weil sie davon nichts gehört hatte. Kaum zu Hause fiel mir ein, dass diese Nachricht fast 200 Jahre alt war. Sie hatte in einem Brief Therese Hubers gestanden und stammte von ihrer Tochter Luise , die damals in der Schweiz zu Besuch gewesen war.
Der Sommer ohne Sonne
Das Unwetter war eine der verheerenden Auswirkungen des „Jahres ohne Sommer“ bzw. der riesigen Aschenwolke, die der Supervulkan Tambora im April 1815 im fernen Indonesien ausgespuckt hatte, aber das wusste ich bei der Lektüre der Briefe noch nicht. 1995 recherchierte ich für eine Ausstellung zu Therese Huber im Schiller-Nationalmuseum Marbach die Hungerjahre 1816/17 in Württemberg. Die Schriftstellerin und erste deutsche Berufsjournalistin war gerade nach Stuttgart gezogen und übernahm wenig später die Redaktion von Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“. Nun wurden mir die Zusammenhänge klar.
Damals fiel vor allem unmittelbar nördlich der Alpen im Sommer Schnee. Kälte, Unwetter und Überschwemmungen vernichteten die Ernte, massive Hungersnöte brachen aus. Besonders betroffen waren Vorarlberg, Bayern, Württemberg, Baden, Teile der Schweiz und das Elsass, alles Gegenden, die zudem auch noch an den Folgen der Napoleonischen Kriege litten. Es kam zu Auswanderungen im großen Stil, zum Beispiel flüchteten viele Schwaben nach Bessarabien. In den USA wanderten viele Familien von der Ostküste weg Richtung Frontier, und das hieß damals Ohio, Illinois und Indiana. Grund war der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien, durch den ungeheure Aschemassen in den Himmel geschleudert worden waren.
Eine Königin und ein Lord
Es war eine kritische Zeit, man befürchtete Hungerrevolten. In Württemberg wurde Königin Katharina zur Wohltäterin an dem Volk, dessen Staatsoberhaupt ihr Mann eben erst geworden war. Sie sorgte für die Gründung des „Zentralen Wohltätigkeitsvereins“, des Katharinenhospitals in Stuttgart, der Württembergischen Landessparkasse. Auch die Gründung des Landwirtschaftlichen Instituts in Hohenheim, aus dem die Universität Hohenheim hervorging, stand damit in Zusammenhang. Als endlich wieder eine Ernte eingefahren werden konnte, rief man 1818 in Württemberg den Cannstatter Wasen als landwirtschaftliche Leistungsschau und Volksfest ins Leben.
Literarisch gesehen hatte diese schreckliche Zeit immerhin etwas Gutes. Am Genfer See fanden sich englische Literaten rund um Lord Byron zusammen. An sich hatten sie schöne Spaziergänge in sommerlicher Sonne geplant, aber das schlechte Wetter machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Sie blieben zu Hause und beschlossen, dass jeder eine Schauergeschichte erfinden sollte. Mary Shelley schrieb damals den „Frankenstein“, Byron das Gedicht „Darkness“, das im Folgenden zu lesen ist.
Auf dem Bild oben ist eine Manuskriptseite aus dem „Frankenstein“ zu sehen, die auf der Seite der Bodleian Library, University of Oxford, zu finden ist.
Es gab noch erheblich gravierendere Auswirkungen als die, die ich hier beschrieb, sehr umfassend geht Wolfgang Behringer in seinem empfehlenswerten Buch „Tambora und das Jahr ohne Sommer: Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte“ darauf ein. Er zeigt darin, welche globalen Ausmaße diese Katastrophe annahm und wie sehr sich die Welt durch sie veränderte.
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